S-Bahn: Wiedervereinigung auf der Strecke, aus S-Bahn

08.11.2024

https://sbahn.berlin/aktuelles/artikel/wiedervereinigung-auf-der-strecke

Der #Mauerfall am 9. November 1989 traf auch die geteilte -Bahn völlig unerwartet. Wie schnell und #unbürokratisch damals gehandelt wurde, um dem #Massenansturm Herr zu werden, zeigt: Eisenbahner:in bleibt Eisenbahner:in – egal ob Ost oder West.

„Das tritt nach meiner Kenntnis… ist das sofort, unverzüglich“. Es war der frühe Abend des 9. November 1989, als SED-Spitzenfunktionär Günter #Schabowski seinen berühmt-berüchtigten Versprecher zum gelockerten Reisegesetz in die Mikrofone der Journalisten stammelte. Ein Versprecher, der weitreichende Folgen nach sich ziehen sollte: In Massen strömten die Ost-Berliner noch am selben Abend zu den #Grenzanlagen und verlangten, in den Westen durchgelassen zu werden. Aber nicht nur zu Fuß waren Zehntausende unterwegs – auch auf den S-Bahnhöfen gab es schnell kein Durchkommen mehr. Ihr Reiseziel: Go West (und wieder zurück)!

Es gab nur ein Problem: Mit dem Mauerbau war auch das Berliner S-Bahn-Netz #geteilt worden; alle Linien waren an den Nahtstellen zwischen Ost und West #unterbrochen – mit Ausnahme der #Stadtbahn und der #Nordsüd-S-Bahn, die am Bahnhof #Friedrichstraße miteinander verknüpft waren. Aber auch von dort durfte keine S-Bahn mehr vom Ostteil der Stadt in den Westen und umgekehrt durchfahren. 28 Jahre lang hieß es daher am #Grenzbahnhof Friedrichstraße sowohl aus Richtung Westen wie aus Richtung Osten: „Dieser Zug endet hier und fährt zurück“.

 ⠀Ich konnte zum #Führerstandswechsel nicht mehr nach vorne durch und musste dann seitlich auf der bahnsteigabgewandten Seite des Zuges entlang laufen. Vorne angekommen, kam ich nicht in den Führerstand hinein. Also fragte ich die Fahrgäste: ‚Wollt ihr in den Westen?‘ – ‚Ja!‘ – ‚Dann müsst ihr mich aber erst rein lassen – sonst fährt hier nichts.’⠀

Der Verkehr mit West-Berlin wird eingestellt

Was damals passiert war, verrät ein kurzer Blick in die Geschichtsbücher: Gegen Mitternacht des 13. August 1961 platzte Otto #Arndt, #Direktionspräsident der Deutschen Reichsbahn (DR) der DDR, die in jenen Tagen das Gesamtberliner S-Bahn-Netz betrieb, in die #Leitstelle. Seine unglaubliche Nachricht: Der Verkehr mit West-Berlin wird sofort eingestellt!

Zur gleichen Zeit öffnete der Fahrdienstleiter am Bahnhof Friedrichstraße einen Brief mit derselben Nachricht und stellte das #Ausfahrtsignal auf Halt. Schlag auf Schlag wurden in den kommenden Stunden Eingänge zugemauert, Stromschienen abgebaut und Gleisstücke herausgesägt, um den Verkehr von Ost nach West zu unterbrechen. Ganze Bahnhöfe wurden von einem Tag auf den anderen stillgelegt und verkamen zu „#Geisterbahnhöfen“, die ohne Halt durchfahren wurden.

Was den S-Bahnern nun – 28 Jahre später – zugute kommen sollte: Bis 1984 wurden die beiden S-Bahnteilnetze in Ost und West durch die Deutschen Reichsbahn (DR) der DDR gesteuert. Und selbst nach der #Übernahme des #Westnetzes durch die BVG im Jahr 1984 hatte sich die Reichsbahn der DDR die Möglichkeit offen gehalten, Züge zwischen Ost und West überführen zu können. So konnten über die beiden #Fernbahngleise des Grenzbahnhofs Friedrichstraße bei Bedarf S-Bahnzüge zwischen beiden Stadthälften ausgetauscht werden – natürlich ohne Fahrgäste. Es brauchte nur kurzzeitig der Strom eingeschaltet zu werden, und schon waren #Überführungsfahrten zwischen Wannsee und Schöneweide möglich.

Hinzu kommt: Viele West-Kollegen von damals hatten 1984 nur die Uniform gewechselt und arbeiteten jetzt für die BVG. Auch auf Arbeitsebene beider Bahnbetreiber wurde weiterhin sachlich unter Berücksichtigung der politischen Verhältnisse zusammengearbeitet, so dass viele Dinge auf auf dem kurzen Dienstweg geregelt werden konnten. Diese Kollegialität unter Eisenbahnern, dieser „kurze Draht“ zueinander, sollte sich nun bewähren. Denn schnell wurde klar: Mit dem normalen #Nachtfahrplan war dieser Menschenmasse kaum Herr zu werden.

 ⠀Ich setzte mich zuhause hin und entwarf Konzepte, wie am bevorstehenden Wochenende der zu erwartende Ansturm auf die S-Bahn bewältigt werden könnte. […] Als erstes habe ich am nächsten Tag die geplanten Wochenend-Bauarbeiten abgesagt, was mir anfangs noch Ärger der betroffenen Stellen eintrug. Erste Vorbereitungen zu deren Ausführung waren ja schließlich getroffen worden.⠀

Pendeldienst im Grenzgebiet

„Der Bahnsteig in Friedrichsstraße war schwarz [vor Menschen]!“ erinnert sich Triebfahrzeugführer Dieter Müller, der damals Nachtschicht hatte. Müller gehörte zu den wenigen Ost-Eisenbahnern, die die Staatsgrenze zwischen Berlin-Ost und Berlin-West überqueren durften. Kurz hinter der Grenze am alten Lehrter #Stadtbahnhof (hier befindet sich heute der neue Hauptbahnhof) musste nämlich ein Ost-Reichsbahner den Zug aus dem Westen übernehmen und zum Bahnhof Friedrichsstraße hin und wieder zurück pendeln – bis zu 30 Mal während einer Schicht. Mit diesem #Personalwechsel sollte sichergestellt werden, dass sich keine Flüchtlinge aus der DDR in den Wagen versteckten.

Doch statt sich in die jubelnden Massen einzureihen, blieb Müller auf seinem Posten – auch unter widrigsten Bedingungen. „Ich hatte zum Schluss keinen Hut mehr auf, keinen Knopf mehr an der Jacke, ich sah wie ‚Schlumpi‘ aus und war mit Sekt bespritzt von ‚Hacke bis Nacke‘.“ So wie Müller verhielten sich viele Lokführer – im Osten wie im Westen. Sie meldeten sich freiwillig zu Zusatzdiensten (oder konnten freundlich dazu überredet werden) und legten zahllose Überstunden ein.

Hilfe auf dem Osten

Spontan umdisponiert wurde auch auf der Leitungsebene: Statt im #Zehn-Minuten-Takt fuhren die gerammelt vollen S-Bahnen im Westen nun teils alle fünf Minuten die Nacht hindurch und wurden, wo es ging, auf acht Wagen verstärkt. Doch woher die zusätzlichen Wagen nehmen? Die Idee lag fern und doch so nah: Aus dem Osten natürlich! Kurzerhand bat die BVG bei der Reichsbahn um Verstärkung.

Der Ruf wurde erhört: Schon am Abend des 10. November trafen via Friedrichstraße zwei -Bahn-Vollzüge der DR in West-Berlin ein, um den #Wagenpark der BVG zu verstärken – die ersten von vielen. Weil ihr #Funksystem allerdings nicht kompatibel mit dem der Westfahrzeuge war und die Schilderkästen die Westhaltestellen nicht anzeigen konnten, wurden die Ost-Wagen in die Mitte der West-Züge eingereiht. Und so fuhren sie erstmals seit 1984 wieder Seit an Seit, die S-Bahn West und die S-Bahn Ost.

Wer allerdings glaubte, dass der Ansturm mit der ersten Nacht nachlassen sollte, wurde bald eines Besseren belehrt. Alles, was sich irgendwie auf die Schiene bringen ließ, fuhr nun; die S-Bahn-Fahrpläne in Ost und West wurden aufs maximalmögliche erweitert. Schließlich hatte nun auch noch das Wochenende begonnen – und ganz Berlin genoss die neue #Reisefreiheit. In vollen Zügen, aber glücklich. Der Tagesspiegel vom 11. November berichtet von chaotischen Zuständen und Gedrängel auf den Bahnsteigen der Friedrichsstraße – wohlgemerkt in beide Richtungen – und zitiert einen älteren Herren: „Det hab ick ooch noch nich erlebt, daß ma anstehen, um wieder rin zu kommen.“

 ⠀Beim Führerstandswechsel, als ich so am Zug entlang ging und mir meine Fahrgäste in den einzelnen Wagen betrachtete, fiel mir auf, daß viele Fahrgäste, die eben mal kurz „drüben“ waren, eine Westzeitung lasen. Für mich war es ein ungewohnter und unvergesslicher Anblick gewesen.

Es bewegt sich was!

Und auch sonst bewegte sich in diesen turbulenten Tagen so einiges, was über Jahre nicht so einfach umzusetzen war. Spontane Absprachen zwischen BVG, Reichsbahn und DDR-Grenzern waren in der Euphorie des Moments möglich, die vorher undenkbar schienen. Dr. Wolf-Ekkehart Matthaeus, 1989 Betriebsleiter bei der DR-S-Bahn, erinnert sich, wie lapidar ein Grenzkommandant reagierte, als eine #Signalschaltung angesprochen wurde, die einen schnelleren #Verkehrsfluss zwischen Lehrter Bahnhof und Friedrichstraße seit 1984 verhindert hatte: „Baut das Ding doch aus“.

Doch bei der spontanen Zusammenarbeit sollte es nicht blieben. Als mit der #Währungsunion am 1. Juli 1990 auch alle Grenzkontrollen abgeschafft wurden, war klar: Die #Wiedervereinigung des Berliner S-Bahn-Netzes ist nicht mehr aufzuhalten. Gleise, die seit dem Mauerbau unterbrochen waren, wurden nun wiederhergestellt – und zwar in Rekordzeit! Bereits am frühen Morgen des 2. Juli fuhr mit „Berta 7“ der erste Zug aus dem Osten über den Bahnhof Friedrichstraße wieder in Richtung Westen  – auf Gleisen, die zuletzt 1961 genutzt worden waren. Ironie der Geschichte: Mit im Wagen saß ausgerechnet jener Triebfahrzeugführer, der am Tag des Mauerbaus den letzten Zug nach West-Berlin überführt hatte.